1945, 2022 und der Tag der Befreiung

Artikel 5 • Sonntag, 8. Mai 2022 (Tag der Befreiung, Muttertag)

Richard von Weizsäcker nannte als erster Bundespräsident den 8. Mai 1945 einen Tag der Befreiung: „Er hat uns alle befreit von dem menschenverachtenden System der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft“. Ich bin heutzutage nicht froh, aber ich bin dankbar, wenn ich auf diesen Tag blicke. Doch dieses Jahr mischt sich mit Blick auf Russlands Krieg in der Ukraine ein Gefühl unter meine Gedanken, mit dem ich nicht so recht umzugehen weiß.


Richard von Weizsäcker vor dem Deutschen Bundestag, 8. Mai 1985 (II. Kapitel)

Der 8. Mai ist ein Tag der Erinnerung. Erinnern heißt, eines Geschehens so ehrlich und rein zu gedenken, dass es zu einem Teil des eigenen Innern wird. Das stellt große Anforderungen an unsere Wahrhaftigkeit.

Wir gedenken heute in Trauer aller Toten des Krieges und der Gewaltherrschaft. Wir gedenken insbesondere der sechs Millionen Juden, die in deutschen Konzentrationslagern ermordet wurden. Wir gedenken aller Völker, die im Krieg gelitten haben, vor allem der unsäglich vielen Bürger der Sowjetunion und der Polen, die ihr Leben verloren haben.

Wir gedenken der ermordeten Sinti und Roma, der getöteten Homosexuellen, der umgebrachten Geisteskranken, der Menschen, die um ihrer religiösen oder politischen Überzeugung willen sterben mussten.


Das Deutsche Reich hat in den sechs Jahren des 2. Weltkrieges unsägliches Leid über die Sowjetunion gebracht. Mord, Elend und verbrannte Erde waren der Alltag. Genau dies geschieht heute wieder. Auf gleichem Gebiet. Nur das es diesmal Russland ist, dass die Ukraine angreift. Der Vorwand einer Entnazifizierung ist das „Seit 5.45 Uhr wird zurückgeschossen“ des Jahres 2022.

Nun kann man sagen, dass das alles die Entscheidung einer Gruppe im Kreml ist. Die Befehle dazu kommen von Putin und seiner Clique. Außenminister Lawrow gibt eine Moskauer Version von Joseph Goebbels. Doch was ist mit der russischen Bevölkerung?

Die Deutschen gaben nach 1945 an, dass sie von der Massenvernichtung in den Konzentrationslagern und der Ausbeutung von Zwangsarbeitern nichts gewusst haben. Ist das glaubhaft? Wie glaubhaft ist es heute, dass sich die Geschehnisse rund um die „militärische Spezialaktion“ in der Ukraine nicht in Russland herumgesprochen haben? Unterstützen die Russen Putins Politik?

Ich kann diese Fragen nicht beantworten, nur mutmaßen. In der neuesten Statistik (Stand 7. Mai 2022) zu den schweren Verlusten Russlands werden 24.700 tote Soldaten gelistet. Wenn jeder dieser Soldaten nur zehn Kontaktpersonen wie Eltern, Ehefrauen, Geschwister, Freunde und Arbeitskollegen hat und diese wiederrum weitere zehn, dann haben rund 2,5 Millionen Russen einen Angehörigen bzw. Bekannten in der Ukraine verloren. Das passt nicht zu den Meldungen der russischen Medien. Stellt man sich da nicht Fragen?

Nun bin ich in der DDR großgeworden. Schnell wurde mir damals beigebracht, dass ich meine Meinung „an die Gegebenheiten anpasse“. Jeder hatte eine private und eine offizielle Meinung. Das wird in Russland heute nicht viel anders sein. Das war unter dem Nazi-Regime nicht anders.

Eine Bitte Richard von Weizsäcker in seiner Rede zum 40. Jahrestag des Kriegsendes 1985 ist deshalb nach wie vor aktuell: „Lernen Sie, miteinander zu leben, nicht gegeneinander.“

Ich will über die heutigen Russinnen und Russen nicht urteilen, weil ich nicht weiß, wie ich an ihrer Stelle unter den Gegebenheiten, die ihr tägliches Leben bestimmen, handeln würde.


Richard von Weizsäcker vor dem Deutschen Bundestag, 8. Mai 1985 (IX. Kapitel)

Die Bitte an die jungen Menschen lautet: Lassen Sie sich nicht hineintreiben in Feindschaft und Hass gegen andere Menschen, gegen Russen oder Amerikaner, gegen Juden oder Türken, gegen Alternative oder Konservative, gegen Schwarz oder Weiß.


Aber ich möchte mir vorstellen, dass es keine Länder gibt, und dies zu tun ist nicht schwer. Nichts, wofür es sich lohnt zu töten oder zu sterben. Ich stelle mir vor, alle Menschen leben ihr Leben in Frieden. Du wirst vielleicht sagen, ich sei ein Träumer, aber ich bin nicht der Einzige. Ich hoffe, eines Tages werden auch die Politiker und du einer von uns sein, und die ganze Welt wird eins sein.


Rede Richard von Weizsäcker vor dem Deutschen Bundestag, 8. Mai 1985 – tagesschau.de